27. November 2002

Ein Journalist interviewt einen Reisenden:

Journalist: "Sie haben die Stadt Dogmática besucht. Was haben Sie da erlebt, was ist Ihnen aufgefallen?"

Reisender: "Der Straßenverkehr ist sehr kompliziert in Dogmática. Es ist mir ein Rätsel, wie die Leute dort es schaffen, daß sie nicht ständig zusammenstoßen. Vielleicht hängt das zusammen mit den seltsamen Verkehrszeichen, die es in Dogmática gibt.

Da wären zum Beispiel die zwei Verkehrszeichen, auf denen ein Kopf mit Gehirn dargestellt ist. Das eine hat einen roten Rand und einen roten Diagonal-Streifen. Es bedeutet: "Nicht mitdenken! Kollisionsgefahr!"

Im Einzelfall heißt das dann in der Praxis beispielsweise: "Nicht hinschauen! Widersprüche wären zu offensichtich. Kollisionsgefahr!"

Ja, in Dogmática sind viele Kurven so haarsträubend gefährlich, daß man als Außenstehender denkt: "Jeden Moment kracht es." Aber die Einwohner kommen erstaunlich gut mit solchen Sitiationen zurecht.

Bloß wenn jemand eine Nase hat, die Widersprüchliches wittert, dann kommt er nicht weit in Dogmática.

Einer hat mir erzählt, er sei weggezogen, denn es stinkt dort so.

Das andere Verkehrszeichen zeigt auch einen Kopf auf blauem Grund und nicht durchgestrichen. Es ist ein Gebotsschild und bedeutet: "Denken erlaubt und geboten."

Man findet es zum Beispiel in der Prunkstraße von Dogmática. Da ist es nämlich erlaubt, nach Herzenslust zu analysieren, klassifizieren und argumentieren. Da kann sich der Intellekt austoben. Sie wundern sich über das Wort Intellekt? Ich verwende es sonst fast nie. Aber, ich habe es dort in der Stadt gehört. Und daß sich der Intellekt austoben darf, das trifft, glaube ich, ziemlich genau das, was das Gebotsschild mit dem Gehirn eigentlich meint.

Das Gebotsschild mit dem Gehirn ist so eine Art Ausgleich für das Gleichgewicht. Sonst rebelliert der Verstand, wenn er nie etwas sagen darf.

Auch in der Sraße der Unfehlbarkeit ist mir ein Verkehrszeichen aufgefallen. Es war dreieckig, mit grünem Rand. Und in der Mitte war ein Schalentier abgebildet.

Vorsicht!
Wertvolles Fossil
Nicht kaputtmachen

konnte man auf einem kleinen zusätzlichen Schild lesen. Ich schaute umher, um das wertvolle Fossil zu sehen. Aber da war kein Fossil. Da waren nur Schnecken, die zahlreich auf der Straße herumkrochen. Es war sehr eklig.

Im übrigen sind die Straßen von Dogmática der reinste Irrgarten. Ich habe erlebt, wie ein Kind sich dort verirrt hat."

Journalist: "Haben Sie auch die Biblioteca Dogmática besucht? Alle reden doch von dieser Bibliothek."

Reisender: "Ja, sowohl die Prunkstraße, aber auch die Straße der Unfehlbarkeit führen dort hin.

Ich selbst war auch drinnen. Als ich sah, was für Bücher da nebeneinander im Regal standen, dachte ich mir: Bin ich froh, daß ich nicht hier aufgewachsen bin, zwischen diesen Büchern! Wie gut, daß ich erst jetzt erfahre, welche Wahrheiten und Unwahrheiten hier nebeneinander als Dogma eingestuft werden

Die Stadt Dogmática hat ein Siegel, das sie auf all ihre Bücher klebt, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen. Und ich kann Ihnen sagen, es ist oft echt nützlich, nicht zu früh (oder überhaupt nicht) zu wissen, ob irgendetwas zu einem Dogma ernannt worden ist. Sie dürfen nicht vergessen: Es gibt Aussagen, die nichts dafür können, daß sie in der Biblioteca Dogmática einquartiert worden sind. Deswegen wäre es nicht fair, Aussagen automatisch zu verdächtigen, nur weil sie das Siegel "Dogma" tragen.

Die wahren Aussagen werden dort oft mit falschen Aussagen zu einem Bündel zusammengebunden und gemeinsam in ein Buch gestopft. Wie es historisch gesehen dazu kam, kann ich schwer beurteilen.

Man muß wirklich auf die Lebendigen Schutzschilder Rücksicht nehmen. Pauschale Angriffe und allgemeiner Spott über die Aussagen in der Biblioteca Dogmática können großen Schaden anrichten.

Oft findet man Wahres und Falsches in ein und demselben Buch so eng nebeneinander, daß man das Buch zerreißen müßte, um Wahrheit und Müll voneinander zu trennen.

Einmal habe ich ein Buch entdeckt, das insgesamt, also in der Summe, so als ganzes Buch, einen vernünftigen Inhalt hatte. Da dachte ich mir: "Ich kann es nicht länger mitansehen, daß Bücher wie dieses mißbraucht werden, um das Bestehen der Biblioteca Dogmática zu rechtfertigen. Eines wenigstens nehme ich mit."

Und so entwendete ich das Buch in einem geeigneten Moment. Hier ist es. Sehen Sie?

Ich habe das Siegel der Biblioteca Dogmática bereits abgemacht. Jetzt ist es wieder ein normales Buch, dessen Aussagekraft von seinem Inhalt kommt, so wie es sein soll, und nicht von einem kirchlichen Siegel."

Anmerkung zu "so wie es sein soll": Vgl. Jesu Aussage: "...Ich aber sage euch : Ihr sollt überhaupt nichts schwören ...Euer Wort sei "ja" für "ja", und "nein" für "nein". Was darüber hinausgeht, kommt vom Bösen." (Matthäus 5,33-37)

Journalist: "Was kann man tun für die wahren Aussagen, die noch in der Biblioteca festgehalten werden? Soll man in die Biblioteca gehen, um sie dort zu besuchen, oder gar um sie da herauszuholen?"

Reisender: "Ich möchte eher sagen: Nein. Gleichzeitig muß ich aber betonen, daß ich nicht in der Lage bin, ihre Fragen eindeutig zu beantworten. Im Einzelfall kann es durchaus so sein, daß der Weg eines Menschen durch die Biblioteca hindurchführt, und daß derjenige zum Beispiel bei einem bestimmten Thema mithilft, einen Irrtum aufzudecken.

Vorhin habe ich gesagt, daß man sich davor hüten sollte, alle Dogmen pauschal anzugreifen. Nur das Siegel von Dogmática, das können Sie ganz generell angreifen. Das ist nichts wert.

Vielleicht denken Sie jetzt, um gezielt anzugreifen, müßte man eigentlich die Biblioteca erst einmal sehr gut kennen. Deswegen möchte ich ihnen einen Tip verraten, den ich nicht selbst erfunden habe. Besonders gut funktionieren Waffen, die nicht als reine Gegenreaktion auf falsche Aussagen entstanden sind. Darum ist es nicht unbedingt notwendig, die Biblioteca Dogmática zu kennen. Bei solchen Waffen hatte Dogmática keinen (oder nur geringen) Einfluß auf Aufbau und Gewichtung. Sie sind dadurch besonders schlagkräftig und unberechenbar für Dogmática. Und, was mich besonders freut, sie arbeiten sehr zielgenau und treffen die Lebendigen Schutzschilde nicht, wenn sie richtig gebaut sind."

Journalist: "Sie sind ja sehr kämpferisch eingestellt. Trotzdem möchte ich Sie eines fragen: Andere beschreiben die Biblioteca Dogmática als ehrfurchts-einflößend (English: awe-inspiring) oder auch als beeindruckend wissenschaftlich. Haben Sie etwas davon gespürt, als Sie drin waren?"

Reisender: "Ich habe schon gemerkt, daß von der Biblioteca so eine Art Aura der Überlegenheit ausging. Ich saß da und dachte: "Was die schreiben können! So was kann ich nicht schreiben. Ich kann es ja nicht einmal verstehen." Da fühlt man sich ganz klein vor den gigantischen Datenmassen der Biblioteca.

Dann habe ich angefangen, ein paar Kapitel in meine eigene Sprache zu übersetzen. So ohne dicke Fremdwörter und elegante Scheinlogik wirkten die Kapitel schon wackliger und weniger wissenschaftlich als vorher.

Als ich an jenem Tag die Biblioteca spät am Nachmittag wieder verließ, begegnete ich einer Frau. Sie sagte zu mir: "Was Sie da machen, habe ich auch schon einmal gemacht. Ich glaube auch, daß Sie im Recht sind, und daß da wirklich Vieles nicht stimmt in der Biblioteca. Aber - machen Sie lieber nicht weiter. Gegen die Dogmatiker haben Sie keine Chance. Die sind aalglatt, die haben immer ein Argument und sei es nur eine Fußnote."

Als ich dann abends allein in meinem Hotelzimmer saß, ging mir das durch den Kopf, was die Frau gesagt hatte.

"Ich habe schon eine Chance gegen die Dogmatiker", überlegte ich mir. "So wie ich die Unterlagen in der Biblioteca einschätze, muß es möglich sein, eine Reihe von Irrtümern aufzudecken. Die machen auf wissenschaftlich. Aber sogar auf dieser Ebene, sagen wir mal zum Beispiel auf der Ebene der Literaturwissenschaft, ist nicht alles erlaubt. Wenn man die Argumente sorgfältig durchgeht, dann wird man wohl Stellen finden, wo Zitate aus der Bibel in einen falschen Kontext eingebaut werden; oder wo Scheinlogik verwendet wird, um etwas in die Bibel hinein zu interpretieren."

Ich nahm mir fest vor, am nächsten Tag Beweise - schwarz auf weiß - gegen die Dogmatiker zu sammeln.

Aber, als ich dann vor der Biblioteca Dogmática stand, kam mir die Idee, daß es besser sein könnte, nicht hineinzugehen.

"Kommen Sie doch herein", sagte ein freundlicher Bibliothekar zu mir. "Wovor haben Sie denn Angst? Ich sehe überhaupt kein Problem. Man kann doch über alles reden."

Ich hatte jedoch das Gefühl, wenn ich mich jetzt mit den Dogmatikern einlasse, dann könnte das bereits deren Sieg sein."

Journalist: "Wenn der eine mit dem anderen Kontakt aufnimmt, das ist doch eher etwas Positives. Wieso sehen Sie darin einen Sieg des anderen über Sie selbst?"

Reisender: "Diese Frage möchte ich mit einer Geschichte beantworten. Es ist eine spanische Kurzgeschichte. Ich fasse den Inhalt grob zusammen.

Ein Spanier bekommt von seinem Freund einen Brief: "Laß Dich nicht mit Señor X auf eine Wette ein," warnt ihn sein Freund. "Señor X ist seinen Wettpartnern immer überlegen. Und dann macht er sich auch noch über sie lustig."

Bald darauf kommt Señor X tatsächlich auf ihn zu und bietet ihm seine Wette an. "Ich wette mit Ihnen 50 Euro, daß Sie an ihren Füßen viele Hühneraugen haben."

Der Spanier überlegt: "Mein Freund hat mich zwar vor einer Wette mit Señor X gewarnt. Aber diese Wette ist etwas anderes. Die kann ich schon annehmen. Denn ich bin mir sicher, daß ich keine Hühneraugen habe."

"Die Wette habe ich schon gewonnen", antwortet er also. "Denn ich habe keine Hühneraugen."

"Das müssen Sie mir erst beweisen." entgegnet ihm Señor X. "Ich verlange, daß Sie sich von drei Fußpflegern untersuchen lassen. Wenn die bestätigen, daß Sie keine Hühneraugen haben, dann glaube ich ihnen."

Der Spanier wundert sich darüber, was Señor X ihm da auferlegt. Aber schließlich läßt er drei Fußpfleger zu sich kommen, zeigt ihnen seine Füße und läßt sich von ihnen in einem Gutachten bescheinigen, daß er keine Hühneraugen habe.

Nach einiger Zeit bekommt der Spanier von seinem Freund wieder einen Brief.

"Habe ich Dich nicht davor gewarnt, Dich auf eine Wette mit Señor X einzulassen? Warum hast Du nicht auf mich gehört? Du hast zwar von Señor X 50 Euro gewonnen. Aber er hatte mit Señor Y um 500 Euro gewettet, Dich dazu zu bringen, Dich von drei Fußpflegern untersuchen zu lassen."

Journalist: "Ich ahne, was Sie meinen. Aber ganz bringe ich es noch nicht zusammen. Wenn Sie bitte wieder auf die Biblioteca Dogmática zurückkommen würden. Um was geht es da konkret? Was wollen Sie da meiden oder vermeiden?"

Reisender: "Wenn jemand versucht, die Informationen auf ihren Wahrkeitsgehalt zu überprüfen, dann muß er oder sie sich darauf gefaßt machen, daß das keine schöne Arbeit ist. Es ist eine schwierige Arbeit, von der kein Mensch einfach so sagen kann, daß er sich ihr gewachsen fühle. Außerdem ist es auch eine schmutzige Arbeit, weil man immer wieder mit Müll und Dreck in Berührung kommt. Dabei ist man einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt. Das ist das größte Problem. Und aus diesem Grund will ich da nicht mehr hinein in die Biblioteca. Bloß, wenn ich hineingehen muß, aber ganz bestimmt nicht zum Vergnügen, und auch nicht eigenmächtig."

Journalist: "Sie reden von einem Infektionsrisiko. Wie meinen Sie das? Übertreiben Sie da nicht ein bißchen? Haben Sie sich denn schon einmal infiziert?"

Reisender: "Ja leider. Haben Sie schon einmal davon gehört, daß der Begriff "Gnade" in der Theologie eine zentrale Rolle spielt? Nein? Seien Sie froh. Seitdem ich etwas zu dem Thema "Gnadenlehre" gelesen habe, habe ich Schwierigkeiten mit dem Wort "Gnade": Dabei stammt das Wort nicht von den Dogmatikern. Es gehört ihnen auch nicht, obwohl sie mit viel Eifer versucht haben, es zu prägen.

Ich habe mich gemüht, ihnen nicht auf den Leim zu gehen. Und trotzdem haben sie mir das Wort fürs Erste entfremdet.

Aber machen Sie sich keine zu großen Sorgen. Die Infektion ging zum Glück nicht tief. Ich bin nur auf das Wort etwas allergisch, nicht aber auf die Idee, für die das Wort in der Bibel steht. Oft helfe ich mir mit anderen ähnlichen Worten, um die Lücken zu überbrücken: Mitleid, Begnadigung, Amnestie... je nach Kontext. Ich hoffe auch, daß die Allergie irgendwann wieder ganz weggeht, irgendwann ...

Ich habe selbst erlebt, daß man sich infizieren kann, ohne es zu wollen, und wahrscheinlich sogar ohne es zu merken.

Was ist, wenn die Infektion tiefer geht, als es bei mir der Fall war? Stellen Sie sich vor, jemand sieht ein Zerrbild. Er will sich dagegen wehren. Deswegen geht er wieder weg, vielleicht ein wenig zu spät. Er wünscht sich, er hätte das Bild nie gesehen. Er merkt, daß er etwas von der Entfremdung oder von der Kälte, die das Zerrbild ausstrahlt, mitgenommen hat.

Ohne Gottes Hilfe bekommt man so ein Zerrbild nicht wieder weg.

Ein Zerrbild kann sehr elegant aussehen und sich sehr heimtückisch einschleichen. Die Argumente der Dogmatiker können so schwammig sein, daß man nicht mehr weiß, wo bei der ganzen Sache vorne und hinten ist. Was man liest, verunsichert einen. Und man kann die Argumente nicht entkräften, weil man sie nicht greifen kann, weil sie so glitschig sind.

"Ich will seine ganzen Gedankengänge überhaupt nicht hören", sagte kürzlich eine junge Frau. Sie saß zusammen mit einer anderen Frau in einem Restaurant, und erzählte aufgeregt von einem Konflikt mit einem Freund oder Bekannten."

Journalist: "Zum Abschluß hätte ich noch eine Frage. Sie berichten ja viel Negatives von Dogmática. Aber finden Sie die Auseinandersetzung mit Dogmática nicht trotz allem faszinierend?"

Reisender: "Wieder möchte ich Ihnen mit einer Geschichte antworten. Diesmal handelt es sich um ein echtes Ereignis, das ich im Radio gehört habe:

Eine Biologin besuchte die Umgebung des Tschernobyl-Reaktors. Sie entdeckte dabei, daß sich viele Pflanzen und Tiere dort verändert haben. Sie fand unter anderem einen Baum, irgendeine Art, die es auch bei uns gibt, einen Ahorn oder eine Eiche. Der hatte rechteckige Blätter, verstehen Sie? Rechtecke!

Das muß doch sehr interessant sein für eine Biologin, könnte man denken. Aber bei ihr war es anders. Es war schlimm für sie. Sie wolle so etwas nie wieder sehen, sagte sie. Sie wolle nicht wieder nach Tschernobyl zurück."